Wie ist die Basisbildung für Erwachsene mit Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben in Wien aufgestellt? Zur Beantwortung dieser Frage reisten elf Akteure der Niedersächsischen Selbsthilfegruppen für Menschen mit geringer Literalität und drei Lernbegleiter aus Hannover, Lüneburg und Oldenburg im Oktober 2025 in die österreichische Hauptstadt.
Ermöglicht wurde diese Bildungsreise durch das Förderprogramm Erasmus+ der Europäischen Union. Es genehmigt Mobilitätsprojekte in der Erwachsenenbildung, um durch transnationale Zusammenarbeit innovative Entwicklungen voranzubringen.
Während der dreitägigen Begegnungen und Gespräche mit Funktionsträgern und Lernenden konnten viele Eindrücke, Informationen und neue Impulse gesammelt werden.
Bereits 2017 und 2018 waren Bärbel Kitzing und Hermann Fickenfrers als Mitglieder der ABC-Selbsthilfegruppe Oldenburg mit ihrem Mentor Achim Scholz über das Erasmus+-Programm in die Niederlande gereist, um schwerpunktmäßig mit den dortigen Lern-Botschaftern in Austausch zu treten.
Kostenlose Basisbildung
Am ersten Aufenthaltstag (7. Oktober) hatte Mag. Angelika Hrubesch, die Leiterin vom lernraum.wien und Gastgeberin der deutschen Reisegruppe in die VHS Floridsdorf eingeladen. Sie liegt im 21. Wiener Bezirk mit 180.000 Einwohnern und ist eine von insgesamt 32 Volkshochschulen in Wien. In dem ehemaligen Arbeiterbezirk gab es seit Ende der 80er-Jahre die ersten Kurse in der Basisbildung.
Aufgrund einer nationalen „Förderinitiative Erwachsenenbildung“ mit dem Ziel eines Pflichtschulabschlusses sind Lese- Schreib- und Rechenkurse seit 2013 über eine Bund-Länder-Finanzierung kostenlos. Pro Semester finden 12 bis 14 niederschwellige Kurse in unterschiedlicher Intensität mit mehr als 100 Teilnehmenden statt. Auch eine Sozialberatung kann direkt im VHS-Gebäude in Anspruch genommen werden. Die Kurse werden zunehmend von jungen Menschen und Migrant:innen besucht. Mehr als 1,5 Millionen Menschen in Österreich haben Probleme mit dem Lesen und Schreiben und erleben im Alltag und im Beruf viele Hürden.
Bei einer Führung durch das „Haus der Begegnung“, wie sich die VHS auch nennt, konnten wir den großen Saal mit 600 Stühlen und einer Bühne für kulturelle Veranstaltungen – früher auch Kinovorführungen – wie Volkstheater, Konzerte und Bälle bestaunen. Die Unterrichtsräume im 4-stöckigen Gebäude sind ebenfalls groß, hell und mit Medien ausgestattet.
Lernende als Themenbotschafter
Für zwei Stunden hatten wir Gelegenheit, uns mit Lernenden aus Lese- und Schreibkursen der VHS Floridsdorf in Kleingruppen und im Plenum auszutauschen.
Wir erfuhren, dass es in Österreich keine Selbsthilfegruppen von Erwachsenen mit einer Lese- und Schreibschwäche gibt. Aber in der VHS Floridsdorf wirken drei Lernende als sog. Themenbotschafter:innen im Projekt „Sichtbar!“ Hier wird seit 2023 eine Sensibilisierung für und Enttabuisierung von Basisbildung verfolgt.
Die Themenbotschafter:innen prüfen Werbematerialien auf ihre Verständlichkeit für Betroffene. Durch Informationsstände bei Behörden, Schulen, Gesundheits- und Beratungseinrichtungen machen sie auf die Angebote der VHS im Bereich Basisbildung aufmerksam und weisen auf schriftsprachliche Barrieren hin. Insofern sind ihre Aktionen ähnlich wie die der Selbsthilfegruppen in Deutschland. Angelika Hrubesch wünscht sich für die Zukunft mehr Mittel für eine bundesweit abgestimmte Öffentlichkeitsarbeit, um die vielen Kursangebote in der Basisbildung stärker bekannt zu machen.
Die Akteure der ABC-Selbsthilfegruppen Hannover und Oldenburg und die Selbsthilfegruppe Wortblind aus Lüneburg präsentierten und erläuterten ihre Aktivitäten anhand von Fotos.
Am zweiten Tag (8. Oktober) stand eine Einladung in die VHS Simmering im 11. Wiener Bezirk auf dem Programm. VHS-Direktorin Jennifer Davies führte uns durch das moderne, 2010 erbaute Bildungszentrum, unter dessen Dach die Volkshochschule, eine Musikschule und eine Bibliothek viel Platz finden. Der Inklusionsgedanke zeigt sich hier an Hinweisschildern, Piktogrammen und barrierefreien Zugängen. Alle Menschen sollen hier an Bildung teilhaben können.
Für Einkommensschwache gibt es sozial ermäßigte Kursgebühren. Die Basisbildungsangebote sind kostenfrei, sowohl die Lernhilfeangebote für 6- bis 14-jährige Schüler:innen, als auch für junge Erwachsene zur Erreichung eines Pflichtschulabschlusses oder Deutschkurse für ältere Erwachsene.
Es gibt Kurse „Mama lernt Deutsch“ am Vormittag, wenn die Kinder in der Grundschule sind und ein Projekt „Schule verstehen – Deutsch und mehr“ für Familien mit Migrationshintergrund.
Wichtig ist der Direktorin eine intensive Netzwerkarbeit mit Vertreter:innen des Sozial- und Bildungsbereiches, der offenen Jugendarbeit, der Polizei, Kirchen, Schulen, Sportvereine, Büchereien u. a. Bei den regelmäßig stattfindenden Regionaltreffen werden viele Kooperationen und gemeinsame Projekte vereinbart. In einem Projekt „Ich werde Demokratiebotschafter*in!“ erhalten Menschen mit Lernschwierigkeiten eine spezielle Qualifizierung, um das gewonnene Wissen – auch mit selbst erstellten Infoheften in Leichter Sprache – an ihre Peer Groups weitergeben zu können.
Leseclub in der Bibliothek
Einen weiteren nachhaltigen Eindruck über Möglichkeiten der Basisbildung erhielten wir bei einer Teilnahme an einem Leseclub zwischen Bücherregalen in einer Ecke der Bibliothek.
In die offene Lesegemeinschaft kommen jeweils mittwochs von 16 bis 19 Uhr zwei bis sechs Teilnehmende und lesen in einem Buch. Die Auswahl wird nach Interessen und Absprache getroffen oder von der Kursleiterin vorgeschlagen. Zuletzt wurden Liebesgeschichten und Märchen aus verschiedenen Ländern gelesen – Texte, die die Teilnehmenden emotional berühren.
Zunächst liest jeder leise für sich, dann reihum ein Stück laut, dann werden unbekannte Wörter erklärt (Wortschatzarbeit) und das Gelesene besprochen. Der Teilnehmer Achmed meinte: „Das Lesen gibt mir einen Einblick in die Vergangenheit, verbessert meine Aussprache und Lesefähigkeit und ich kann hier im Leseclub viel lernen.“
Ressourcenschonung und Wiederverwertung
Am dritten Tag (9. Oktober) besuchten wir ein der VHS angegliedertes Demontage- und Recyclingzentrum (DRZ) im 14. Wiener Bezirk.
Der Erwachsenenbildner und Leiter Christoph Eberharter führte uns durch die Hallen und erläuterte das Konzept: Der sozialökonomische Betrieb bekommt vom Arbeitsmarktservice (AMS) als Auftraggeber Fördergelder, um 77 Arbeitslose in einem 6-monatigen Praktikum zu beschäftigen, sozialarbeiterisch zu betreuen und in den 1. Arbeitsmarkt zu vermitteln.
In der Demontagehalle werden täglich 5 bis 7 Tonnen Elektroschrott von Müllplätzen in Wien selektiert. Was irreparabel ist, wird händisch in Einzelteile zerlegt, um verschiedene Wertstoffe zu gewinnen, die wieder veräußert werden können.
In der Reuse-Halle werden Handys, Lautsprecher, Radiogeräte u. v. m. von Technikern repariert, um wiederverwendet zu werden. Sie werden im Upcycling Shop vor Ort oder online verkauft.
Unter dem Label „trash_design“ werden aus den in der Demontage übriggebliebenen Teilen nützliche neue Gegenstände produziert, z. B. Tische, Sessel und Lampenschirme aus Waschmaschinentrommeln.
Bilanz der Lernreise nach Wien
Die Tage in Wien boten neben dem interessanten Pflichtprogramm auch ausreichend Freizeit, um die Stadt an der Donau selbstständig in Kleingruppen unterschiedlicher Zusammensetzung zu erkunden und sich individuelle Wünsche zu erfüllen, zum Beispiel eine Fahrt mit dem Riesenrad im Prater. Die Stimmung in der Gruppe war ausgesprochen gut und von vielen Wohlfühlmomenten geprägt.
Die dem Hotel nahegelegene U-Bahn-Station erwies sich als sehr vorteilhaft, denn so ließen sich die Zielorte schnellstmöglich erreichen. In den öffentlichen Verkehrsmitteln – sei es Bus, Straßenbahn oder U-Bahn – hört man oft die Durchsage „Nehmen Sie Rücksicht auf andere Fahrgäste!“ Höflichkeit und das Anbieten eines Platzes wird hier großgeschrieben.
Die persönlichen Begegnungen und Gespräche, sowohl innerhalb der Reisegruppe als auch in den gastgebenden Institutionen wurde als wertvoll und bereichernd empfunden. Von organisatorischem Vorteil war die eigens für die Reise eingerichtete WhatsApp-Gruppe, die alle jeweils auf den aktuellen Stand brachte und dem Austausch von Fotos diente.











