Verantwortung für Lebenswege

Von links: Ernst Lorenzen, Madeleine Morhardt, Annika Krause, Achim Scholz

Was bedeutet es, als Erwachsener nicht ausreichend lesen und schreiben zu können? Wie kann es überhaupt dazu kommen? Und was kann man dagegen tun bzw. welche Verantwortung haben Eltern und Lehrkräfte? Diesen Fragen widmeten sich Ernst Lorenzen, Mitbegründer der ABC-Selbsthilfegruppe Oldenburg, und Achim Scholz, Botschafter für Alphabetisierung und Grundbildung, bei einem Gastvortrag am 24.04.2025 in der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg.

Eingeladen hatten Dr. Annika Krause und Madeleine Morhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen in der Fachgruppe Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen des Lernens unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse.

Anwesend waren 46 Studierende im 2. Semester des Master of Education. Im Rahmen ihres Studiums der Sonderpädagogik kamen sie aus drei Seminaren „Didaktik und professionelles Handeln II. Schwerpunkt: LE – unter besonderer Berücksichtigung emotionaler und sozialer Grundlagen für das Lernen, den Schriftspracherwerb sowie soziokultureller Lernbereiche“.

Zu Beginn betrachtete Achim Scholz die Lese- und Schreiblernprozesse anhand persönlicher Erfahrungen aus verschiedenen Perspektiven: Im Erleben als Schüler, als Student bei der mehrjährigen Förderung von Sonderschülern und als Bildungsmanager bei der Entwicklung von Lese- und Schreibangeboten in der Erwachsenenbildung. Es brauche in allen Bereichen Menschen (Eltern, Lehrkräfte, Kursleitende), die sich kümmern, eine vertrauenswürdige Beziehung aufbauen, Lernende lebensweltorientiert begleiten und immer wieder ermutigen. Er betonte, dass gerade Eltern als „erste Lehrer“ eine besondere Verantwortung für den Bildungsprozess ihres Kindes haben und Freude am Lernen vermitteln sollten.

Ernst Lorenzen schilderte, wie schnell man als Schüler den Anschluss beim Lernen verlieren kann und wie anstrengend ein Leben ohne Schriftsprache für ihn war. Erst mit 55 Jahren begann er die Welt der Schriftsprache zu erobern und diese Erfahrung führte ihn dazu, eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten zu gründen.

Auf die Frage, was er sich in der Sonderschule von den Lehrkräften im Unterricht gewünscht hätte, nannte er spontan „mehr Unterstützung und ein stärkeres Eingehen auf schwächere Schüler.“ Achim Scholz ergänzte die Antwort aufgrund einer Befragung seiner Lernenden in VHS-Kursen: „die Schwächen eines Schülers wahrnehmen, Schüler nicht erst absacken lassen, nicht zu streng sein, Schüler nicht blamieren, gerecht sein, mit den Eltern zusammenarbeiten, ggf. für Nachhilfe sorgen.“

Jannes Schröder im Video und Ernst Lorenzen im Hörsaal

Es folgte ein Videofilm über den ehemaligen Lernenden Jannes Schröder. Er spricht über seine Lebens- und Lerngeschichte sowie über seine Arbeit im Garten- und Landschaftsbau. Sein außerordentliches Talent zum Schreiben von Gedichten führte ihn als Lernender im ABC-Projekt der VHS Oldenburg zum Sieg in einem bundesweiten Literaturwettbewerb.

Für Erwachsene mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche ist es oft ein langer Weg von jahrelanger Angst und Scham hin zur Freude am Lernen in einer kleinen Lerngruppe und zu nicht für möglich gehaltenen Erfolgserlebnissen. Ernst Lorenzen sagte: „Die Welt ist dann nicht mehr grau, sondern bunt!“

Auch unter den Studierenden waren Mitwisser, also Personen, die einen Betroffenen in ihrer nahen Umgebung kennen. Durch die von Achim Scholz gesammelten und vorgelesenen Lebensgeschichten wurde deutlich, dass sich schlimme Schulerfahrungen auf das ganze folgende Leben eines Menschen auswirken können. Für Lehrkräfte ist es also eine große Verantwortung und Herausforderung, allen Kindern gerecht zu werden und ihnen die notwendige Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteilwerden zu lassen.

Das große Interesse der Studierenden zeigte sich an der Vielzahl der Fragen:

  • Gibt es einen Unterschied zwischen dem Lese- und Rechtschreibunterricht für Kinder und Erwachsenen? Macht man ähnliche Übungen? Werden gleiche Methoden verwendet?
  • Sind die Phasen ähnlich von Erstlernern und Erwachsenen, die das Lesen erlernen?
  • Wie wird gelernt (mit digitalen Medien oder mit Handschrift)?
  • Wie ist der Zeitraum, wenn Erwachsene lesen lernen? Wie lange dauert es?
  • Was würdest du sagen, was war für dich hilfreich, Ernst? Was hat dir geholfen?
  • Wie erreicht ihr die Leute für die Selbsthilfegruppe? Wie sorgt ihr dafür, dass alle dort hinkommen können? Wie kann man zu euch kommen?
  • Wie werden Kurse finanziert? Sind die Kurse kostenfrei? Gibt es Kooperationen mit Arbeitsagentur und Jobcenter?
  • Gibt es Indikatoren, worauf wir als Lehrkräfte achten können und was wir machen können, um zum Beispiel auch die Eltern zu erreichen? Oder was können wir machen, wenn wir denken, dass ggfs. auch Eltern nicht gut lesen/schreiben können? Spreche ich sie darauf an?
  • Welche Anzeichen für eine Lese- und Rechtschreibschwäche gibt es bei Kindern/Jugendlichen, worauf wir im Unterricht achten können?
  • Wie haben sich die Kurse und die Teilnehmerzahl über die Jahre verändert, zum Beispiel auch über die Coronapandemie?
  • Kann der Rückgang der Kursteilnehmer auch damit zu tun haben, weil es mehr Hilfsmittel gibt zum Beispiel ein Foto übers Handy zu machen und es sich dann vorlesen zu lassen? Kann es auch damit zu tun haben, dass die Hemmschwelle so groß ist?
  • Hat sich die Zahl von 6,2 Millionen Erwachsenen, die nicht lesen und schreiben können, verändert?

Zur weiteren vertieften Beschäftigung mit dem Thema Lesen und Schreiben für Erwachsene nannte Achim Scholz verschiedene Webseiten, wo viele nützliche Informationen, erwachsenengerechte Unterrichtsmaterialien, Online-Übungen, Filmdokumentationen und vieles mehr zu finden sind, u. a.: