ABC-Projekt bei der 2. Statuskonferenz


Der Einladung der Transferstelle alphabund des UNESCO-Instituts für lebenslanges Lernen zur 2. Statuskonferenz des Förderschwerpunktes Alphabetisierung/Grundbildung Erwachsener am 25.11.2009 ins Privathotel Lindtner in Hamburg waren etwa 120 MitarbeiterInnen der beteiligten Forschungsverbünde sowie externe ExpertInnen gefolgt. Das ABC-Projekt war mit Prof. Sven Nickel, Michael Grosche, Kerstin Ratzke und Achim Scholz in den Diskussionsrunden und verschiedenen Fachgruppen vertreten. Es zählt zu den 13 Projekten mit insgesamt 58 Forschungsvorhaben, dessen Laufzeitende im 2. Halbjahr 2010 erreicht sein wird.
In ihrer Eröffnungsrede verwies Marion Döbert, Leiterin der Transferstelle alphabund, anhand eines Logbuchs der Aktivitäten auf die bisherige erfolgreiche Transferarbeit des alphabund-Teams. Unter der Moderation von Heidrun Gilde bildeten sich acht Diskussionsrunden mit ExpertInnen aus der Sozialen Arbeit, der Arbeitsverwaltung (ARGEn), von Bildungsträgern, aus der JVA, dem Bereich Kunst und dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg. Diskutiert wurden die Interessen der Transferfelder an den in den Forschungsvorhaben entwickelten Produkten für die Alphabetisierung und Grundbildung.

Für das Transferfeld Soziale Arbeit stellte Prof. Peter Budweg, ehemaliger Lehrstuhlinhaber der Fachhochschule Hamburg, Dep. Soziale Arbeit, zunächst fest, dass Alphabetisierung kein Thema im Bachelor-Studiengang Sozialarbeit ist. In der Alphabetisierung ist die sozialpädagogische Begleitung hingegen ein essentieller Bestandteil. Konsens bestand in der Runde darin, dass es wünschenswert sei, bei Bildungsanbietern Sozialpädagogik-Stellen zu installieren, um kursübergreifend die Lehrkräfte in Alphabetisierungskursen bei der Lösung der vielfältigen sozialen Probleme zu entlasten oder aber Tandem-Strukturen zu schaffen, wobei ein Unterrichtender und ein Beratender Hand in Hand arbeiten.

Als gelungene Beispiele für das Zusammenwirken von Alphabetisierung und Sozialarbeit nannte Prof. Budweg das in Brennpunktstadtteilen Londons erfolgreich umgesetzte Modell „Children and parents shop“, wo Kinder Hausaufgabenhilfe erhalten und ihre Eltern alphabetisiert werden. Als weiteres Good-Practice-Beispiel nannte er die Einrichtung eines Leseclubs in einem Jugendknast Hamburgs. Hier wurden langfristig verurteilten Männern mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Lesen täglich zwei Stunden aus Kinderbüchern bzw. Geschichten aus der sozialen Realität der Einsitzenden vorgelesen, um mittels dieser neuen Erfahrung Schrift als etwas Positives zu vermitteln. In Flächenländern wie Irland und Kanada hätten sich in der ergänzenden Alphabetisierungsarbeit Einzelfallhilfen („One to one“) durch ehrenamtlich Tätige (vor allem pensionierte LehrerInnen)  im Nachbarschaftsbereich bewährt. Sehr populär geworden sei in Alberta/Kanada das „Book traveling“. Hier schreiben Lernende ihre Lebens- und Lerngeschichten mit Fotos versehen in ein dickes Buch, welches an verschiedene Einrichtungen der Alphabetisierung weiter gereicht wird. Dadurch entstehen Netzwerke, Solidarisierungen und Anlässe für öffentliches Auftreten in Presse, Funk und Fernsehen.

Die Fachgruppe 2 „Zielgruppenanalyse“ traf sich bereits einen Tag vor der Statuskonferenz, um die Er¬geb¬nisse der Vorstudie und die neu geplante Level-One-Studie zu reflektieren. Im Zen¬trum aber stand die Arbeit an einer gemeinsamen Definition für die Zielgruppe funktionaler Analphabeten. Auf dem Treffen während der Statuskonferenz konnten die Fachgruppen-Mitglieder dem nun erweiterten Kreis gegenüber einen ersten Entwurf einer als Kernelement verstandenen Definition präsentieren. Diese dynamische und als Baukastensystem angelegte Definition soll in der künftigen Anwendung jeweils individuell ausgestaltet werden, bspw. hinsichtlich spezifischer Ausschlusskriterien.
Die Fachgruppe hat sich darauf verständigt, diese Kerndefinition im weiteren Verlauf empirisch zu prüfen und im jeweils eigenen Projektkontext anzuwenden. Auf einem nächsten Treffen der Fachgruppe am 31. Mai 2010 in Frankfurt sollen die verschiedenen empirischen Zugänge vorgestellt und diskutiert werden, bevor dann die Kerndefinition für den Förderschwerpunkt öffentlich gemacht wird.

In der Fachgruppe 5 „Unterricht“ hielt Michael Grosche auf Einladung von Sven Nickel und Peter Hubertus einen Vortrag über die Theorie und Praxis der Direkten Instruktion. Begonnen wurde mit Theorien zum
Arbeitsgedächtnis und zur kognitiven Belastung, die postulieren, dass das Arbeitsgedächtnis eine begrenzte Ressource darstellt, die leicht durch zu komplexe Lernaufgaben erschöpft werden kann. Daraus folgt, dass Unterrichtsmethoden nur dann erfolgreich sein können, wenn sie diese begrenzten Ressourcen berücksichtigen. Eine solche Unterrichtsmethode stellt die Direkte Instruktion dar, die im ABC-Projekt mit verschiedenen Lernern auf verschiedenen Lernstufen erfolgreich implementiert wurde. Hierbei werden einzelne Teilkomponenten des Lesens kleinschrittig, redundanzreich und durch viele Übungen eintrainiert, um eine Basis für höhere Lesekompetenzen zu liefern.
In der anschließenden Diskussion des Vortrags wurde vor allem kritisch angemerkt, dass der Direkten  Instruktion ein anderes Verständnis von Lernen zugrunde liegt. Während Lernen im Bereich der Alphabetisierung häufig als Tätigkeit und Prozess verstanden wird, geht die direkte Instruktion davon aus, dass Lernen nur dann stattfindet, wenn durch Erfahrungen langfristige Änderungen im Langzeitgedächtnis geschehen. Anschließend wurde diskutiert, wie bisherige Unterrichtskonzepte in der Grundbildung mit Direkter Instruktion verknüpft werden können. Die Fachgruppe „Unterricht“ kam zu dem Schluss, dass das Lernziel der Unterrichtsstunden ganz klar formuliert sein muss, um dann die bestmögliche Methode zur Erreichung der Ziele auszuwählen. Eine solche Methode kann – muss aber nicht – die Direkte Instruktion sein.

In der Fachgruppe 8 „Nachhaltigkeit“ wurden Erfolg versprechende Strategien diskutiert, um relevante gesellschaftliche Akteure und die Öffentlichkeit stärker für die Forschungsinitiative zu sensibilisieren und die Projektergebnisse nachhaltig zu sichern. Dabei profitierte die Fachgruppe insbesondere von den umfangreichen Netzwerkkontakten und dem großen Erfahrungsschatz von Marion Döbert.
Als Grundlage für eine nachhaltige Projektarbeit wurden kontinuierliche Kontakte zu festen Ansprechpartnern in etablierten Institutionen und eine politische Lobbyarbeit vor Ort benannt. Auf kommunaler Ebene seien Netzwerkkontakte aufzubauen und zu pflegen unter Einbezug von Unternehmen, Kammern, Schulen und Leistungsträgern (z.B. den Rotariern als Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik). Auf Länderebene gehe es darum, Infrastrukturen langfristig zu sichern nach dem Modell der Koordinierungsstelle für Alphabetisierung/Grundbildung in Sachsen.


Die Überlegungen gingen dahin, den Transfer auf kommunaler und landespolitischer Ebene zu verstärken durch Veranstaltungen mit Wirtschaftsforschungsinstituten, Landesministerien (Arbeit, Bildung, Familie), dem Landesverband der Volkshochschulen, der Wirtschaftsförderung, den Kammern und Berufsschulen, mit einem neutralen Schirmherrn bzw. einem Netzwerker aus Wirtschaft und Politik. Auch Landesveranstaltungen der ARGEn und Jobcenter zum Thema Alphabetisierung und Grundbildung – unterstützt durch Referenten der BA – könnten einen Transfer befördern. Diesbezüglich sollte eine Landkarte der Projekte aus dem Forschungsschwerpunkt erstellt werden.
Die Botschaften im Transfer müssten unterschiedlich je nach gesellschaftlichem Adressat ausgerichtet sein, d.h. im jeweiligen Kontext Produkte angeboten und die Vorteile herausgestellt werden. Im Kontakt mit der Wirtschaft muss deutlich werden, welche Vorteile Betriebe durch Grundbildungsangebote erzielen können (Arbeitsplatzsicherung erfahrener Mitarbeiter, flexibler Einsatz von Arbeitskräften, geringere Unfall- bzw. Fehlerquote etc.). Präsentationsfolien für Unternehmen hat beispielsweise das Projekt GRAWIRA erarbeitet.

Hilfreich seien bundesweite Standards für die Rahmenbedingungen einer Alphabetisierung und Grundbildung. So könnten für eine bildungspolitische Argumentation die Dauer von Lernprozessen in Zahlen gefasst werden (2 Jahre Intensivlernangebote als Minimum), die Inhalte einer Grundbildung differenziert dargestellt werden (mehr als die Vermittlung von Schriftsprachkenntnissen), die Orientierung am Arbeitsmarkt  (Anforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes) herausgestellt und Erfolgskriterien genannt werden (Lernentwicklungsbeschreibung innerhalb eines Qualifikationsrahmens).
Zudem müssten die rechtlichen Grundlagen einer Finanzierung von Maßnahmen der Alphabetisierung/Grundbildung geprüft und dabei die Weiterbildungsgesetze der Länder einbezogen werden. Das Projekt EQUALS lässt zurzeit eine Expertise zur Finanzierung nach SGB II (§16f), SGB III (§45/46) und SGB XII erstellen.

In ihrem Schlusswort gab Marion Döbert bekannt, dass die Transferstelle alphabund ihre Arbeit ab 2010 nicht mehr weiterführen kann. „Dinge können sich ändern – dynamisch und flexibel.“ Diese Nachricht hinterließ bei vielen Konferenzteilnehmern Irritation und Fassungslosigkeit.