In einem Workshop beim zweiten bundesweiten Fachtag für Grundbildung am 11.09.2024 in Hannover erläuterten Achim Scholz und drei Akteure niedersächsischer Selbsthilfegruppen für Erwachsene mit einer Lese- und Schreibschwäche, was Lernende in der Grundbildung brauchen.
Der Fachtag zum Thema „“Grundbildung im Wandel“ fand im Veranstaltungszentrum „Rotation“ statt und bot Gelegenheit, aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen im Bereich Grundbildung zu diskutieren. Über 100 Teilnehmende aus Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Bremen, NRW, Thüringen und Baden-Württemberg waren zugegen. Nach einem Vortrag von Angelika Hrubesch, Leiterin des AlfaZentrums der VHS Wien (lernraum.wien) über die „Qualifizierung von Lehrkräften in der Basisbildung“ gab es eine Paneldiskussion „Von der Grundbildung zur beruflichen Integration“.
Das alternative Jugendtheater „Teatromania“ des ukrainischen Regisseurs Anton Telbizov hatte extra zum Thema des Fachtages mit jungen ukrainischen Geflüchteten ein Stück über Bildung und Freiheit inszeniert. Die körperbetonte Darstellung von Ängsten und Ermutigungen im Prozess der Entwicklung zu einem literalisierten Dasein war emotional sehr berührend. Vier doppelt durchgeführte Workshops am Nachmittag sollten praxisnahe Lösungsansätze und neue Impulse für die Grundbildungsarbeit bieten.
Im Workshop „Was brauchen Lernende in der Grundbildung?“ setzten sich die jeweils 20 Teilnehmenden aus Akteuren der bestehenden Selbsthilfegruppen, aus Kursleitenden und Programmverantwortlichen von Bildungsträgern zusammen.
Sie konnten aus erster Hand erfahren, wie gering literalisierte Erwachsene Selbsthilfegruppen gegründet und organisiert haben und welche Unterstützung sie dabei brauchen. Auch die Professionalisierung dieser Gruppen und die Möglichkeiten der politischen Interessenvertretung wurden in der ersten Hälfte des einstündigen Workshops angesprochen.
Unter der Moderation von Achim Scholz erläuterten Ernst Lorenzen (Oldenburg), Tina Meyer (Lüneburg) und Sascha Nowack (Hannover) folgende 12 Schlüsselbegriffe, die für die Arbeit ihrer Selbsthilfegruppen von großer Bedeutung sind.
Die Gründung der SHGs erfolgte durch die Lernenden selbst, im Kontext ihrer Lese- und Schreibkurse. Das Motiv war, sowohl einen geschützten Raum für Gespräche und Austausch zu haben, als auch, sich in der Öffentlichkeit für die gleichfalls Betroffenen einzusetzen und dem Thema Gesicht und Stimme zu geben, sich nicht mehr zu verstecken.
Die meisten Mitglieder sind zum ersten Mal in einer Selbsthilfegruppe und benötigen Beratung und pädagogische Unterstützung durch eine/n Lernbegleiter/in, die bzw. der beratend zur Seite steht, z.B. bei Medienanfragen, Fortbildungen, Anträgen und Berichtswesen sowie der Vorbereitung von Workshops, öffentlichen Aktionen etc.
Bei der Arbeit der SHGs fällt viel Schriftkram an. Die Lernbegleiter/innen helfen bei der Bewältigung, z.B. bei Anträgen, Protokollen, Beantwortung von (E-Mail-)Anfragen, Abrechnungen, Berichten, Bearbeitung von Texten für die ABC-Zeitung usw. Dabei sollen keine formalen Fehler entstehen.
SHGs benötigen einen eigenen Raum für regelmäßige Gruppentreffen, Videokonferenzen, Besprechungen, Interviews usw. Als Ausstattung brauchen sie: Info-Tresen, Pavillon, Banner, Roll-up, Flyer, Visitenkarten, Plakate, Give aways, Aufbewahrungsboxen. An technischen Geräten sind hilfreich: Handy, Tablet, Laptop, Mikro und Verstärker, Drucker. Geld und ein eigenes Konto sind ebenso wichtig.
Ein IT-Experte kümmert sich um die Pflege der SHG-eigenen Website, stellt neue Texte in Einfacher Sprache ein, unterstützt bei Videokonferenzen und im Umgang mit Handy/PC/Internet, bearbeitet Print-Produkte wie z.B. Flyer und macht auch Hausbesuche, um technische Probleme in der gruppeninternen Kommunikation zu beheben.
Um professionell arbeiten zu können, benötigt eine SHG Geld zur Anschaffung von Hilfsmitteln und Bürobedarf, für Fahrkosten und eigene Aktivitäten: Ausflüge, Sommerfest, Leseabende etc.
Einnahmen gibt es aus Spenden, Sponsorengeldern, Preisen und Aufwandsentschädigungen (ALFA-Mobil, Buchmesse, Vorträge, Workshops).
Das ALFA-Mobil vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. bietet bei Innenstadt-Aktionen eine niedrigschwellige Beratung für Betroffene an. Dabei haben die Akteure der SHGs und andere Lernbotschafter/innen eine wichtige Rolle, da sie aus eigener Betroffenheit sehr eindrücklich zur Teilnahme an Lese- und Schreibkursen ermutigen können.
Die Medien (Presse, Hörfunk, Fernsehen) sind für die SHGs sehr wichtig, denn sie verbreiten die Botschaften. Wer sich in der Öffentlichkeit bewegen will, muss auch damit umgehen können und seine Rechte kennen. Das Team vom ALFA-Mobil bietet seit vielen Jahren Medientrainings an. In lehrreichen Wochenendseminaren üben Lernbotschafter/innen in Rollenspielen den Umgang mit Medienvertretern.
Die drei SHGs sind untereinander, aber auch mit anderen SHGs in weiteren Bundesländern und mit dem Dachverband Alfa-Selbsthilfe e.V. im Austausch. Auch vor Ort sind sie mit anderen Einrichtungen vernetzt.
Enge Kontakte bestehen zum ALFA-Mobil des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung sowie zur AEWB. Sie sind über den Lerner-Rat ein Partner im Landesbündnis für Grundbildung in Niedersachsen.
Durch das europäische Mobilitätsprogramm Erasmus+ und private Initiativen sind sie bereits im Erfahrungsaustausch mit Lernbotschaftern in Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark und Schweden gewesen.
Der Lerner-Rat setzt sich für die Interessen der Lernenden in der Grundbildung ein. Er besteht seit 2021 aus 5 Lernenden, die von den Selbsthilfegruppen gewählt wurden und 2 Lernbegleitern. Der Lerner-Rat tagt jährlich mehrmals über Videokonferenzen und ist auch Mitglied im Landesbündnis für Grundbildung in Niedersachsen. Dort setzt er sich für seine Ziele ein und bietet Beratung an. Er plant auch die jährlich stattfindenden Lerner-Tage.
Begleitet und finanziert von der AEWB veranstalten die drei SHGs bereits seit Jahren reihum einen jährlichen Lerner-Tag. Dort werden die Aktionen der Öffentlichkeitsarbeit vorgestellt und bewertet sowie Wünsche und kommende Vorhaben von etwa 20 Akteuren diskutiert. Auch die Expertise Außenstehender wird dafür angefragt.
Zitat Tina Meyer: „Ich möchte gerne anderen Mut machen, lesen und schreiben zu lernen, weil ich weiß, dass es sich lohnt, auch wenn es schwer ist für Erwachsene. Die SHGs können auch ermutigen, aus sich heraus zu kommen und Ängste zu überwinden. Man erfährt dort Selbstvertrauen. Ich selbst wurde dadurch auch viel redegewandter. Wir brauchen die Ermutigung durch unsere Lernbegleiter/innen.“
Im zweiten Teil der Workshops wurden die Fragen der Zuhörenden wie folgt beantwortet:
Die aktuellen Selbsthilfegruppen entstanden aus bestehenden Lerngruppen heraus und hatten von Anfang an eine pädagogische Bezugsperson als Unterstützung zur Verfügung. Bildungsträger könnten Teilnehmenden aus Lese- und Schreibkursen einen speziell ausgewiesenen Raum für (Nach-)Gespräche zur Verfügung stellen, um so vielleicht eine Selbsthilfegruppe zu bilden.
Die drei Selbsthilfegruppen in Niedersachsen sind mit je einer eigenen Website und auf dem Lernenden-Portal von www.grundbildung-nds.de vertreten, aber nicht bei Instagram und Facebook.
Dafür müssen viele Wege gegangen werden, wobei eine gute Vernetzung vor Ort hilfreich ist: Sensibilisierungsangebote für Fallmanager des Jobcenters, von Betreuungsbüros, Krankenkassen, Ehrenamtlichen bei „Tafeln“ etc. Radio- und Kinowerbung, Plakate, Ausstellungen, Vorträge, Info-Stände. Aufsuchende Bildungsarbeit, Lernen vor Ort, kurze Wege. Niedrigschwellige und kostenfreie Lernangebote
Zumeist arbeitsteilig: Leitung, Protokoll, Lerner-Rat. Aktionen werden gemeinsam entschieden und vorbereitet. Die einen stehen im Vordergrund, andere im Hintergrund.
Durch Medientraining und Fortbildungen, durch erfolgreiche Aktionen und positive Rückmeldungen, durch das Erleben von Selbstwirksamkeit.
Bessere Lernbedingungen: Kleine Lerngruppe, kein Lernstress, keine Konkurrenz, keine Zensuren und Prüfungen, individuelle Förderung und Lernmaterialien, konstante Lernbegleiter, Lern-Tandems und gegenseitige Unterstützung, Erfolgserlebnisse, alltags- und arbeitsplatzbezogene Lerninhalte.
Etwa 6 bis 8 Mitglieder, häufig eine konstante Besetzung, leider wenig Neuzugänge.
Der Lern-Treff im Stadtteilzentrum Nienburg, angebunden an ein Mehrgenerationenhaus, hat z.B. großen Erfolg mit 20 Teilnehmenden. Ebenso ein Lern-Cafe in Frankfurt/Oder. In Ahrensburg hat die AWO das Lern-Cafe übernommen und Ehrenamtliche sind in Lern-Tandems engagiert.
Auch in Oldenburg sind niedrigschwellige, kostenfreie Lern-Werkstätten an die Stadtteiltreffs der Gemeinwesenarbeit angebunden. Dort nehmen hauptsächlich Migrantinnen die Grundbildungsangebote, z.T. mit Kinderbetreuung, in Anspruch. Die Finanzierung ist nicht langfristig abgesichert.
Am Ende äußerten sich die Teilnehmenden beider Workshops sehr positiv, wie folgende drei Zitate zeigen sollen:
Guten Tag
Es ist ein sehr schöner Bericht über das Thema, Was brauchen Lerner u. Lerner innen in der Grundbildung.
Ich selbst war Teilnehmer des Workshops, als Lerner der ein Leser u. Schreibkurs in Hannover besucht.
Wir die ABC-SELBSTHILFEGRUPPE-HANNOVER waren mit 5 Personen dabei.
Es war für uns sehr wichtig den Zuhörern in den beiden Workshops die Problem zu schildern, die ein Erwachsener im Leben hat und was es braucht im Erwachsenen-Alter noch einmal das Lesen u. Schreiben zu lernen.
Es war sehr interessant die einzelnen Fragen zu hören und aufregend den Teilnehmer die Fragen aus unserer Sicht zu beantworten.
Danke für die Gelegenheit, die wir bekommen haben.
Sascha Nowack